Die ukrainische Revolution war in Wirklichkeit die Fortsetzung der Genese Europas. Im Grunde genommen, unterscheidet sich der Maidan sehr wenig von Ereignissen, die dieses Europa, Europa wie wir es kennen, zustande brachten. Der Mauerfall – wo Millionen Deutschen schlicht müde wurden, in einem abgegrenzten Raum, nach fremden Regeln zu leben. Die Revolution in der Tschechoslowakei – wo friedlich, ohne Gewalt, unter Leitung der Intelligenzija eine Öffnung nach Westen verlangt und erzwungen wurde. Ist das nicht was in den ersten zwei Monaten des Maidans auch passierte? Die Revolution in Rumänien – erinnert sie nicht an den letzten, blutigen Monat des Maidans? Mit dem Unterschied, das unser ukrainischer Ceausescu doch fliehen dürfte und die zahlreichen Mitarbeiter unserer „Securitate“ nicht ausgeschlachtet wurden?
Der Grundunterschied zwischen der ukrainischer Revolution und den europäischen Revolutionen aus Ende 1980er besteht nicht in der anderen Gattung der heutigen Ukrainer, sondern in anderer Gattung der heutigen russischen Führung im Vergleich zu Gorbatschow und seiner Umgebung vor 25 Jahren. Der Unterschied besteht darin dass heutiges Russland diese Genese Europas als Zerstörung seiner eigener Umgebung sieht – und keine Skrupel hat, diesen Prozess zu stoppen. Milliardenhöhe Verluste, tausende Tote, Millionen Flüchtlinge, zerstörte Perspektiven der russischen Wirtschaft (geschweige von Verlusten der europäischen Partnern) – es gibt eben keinen Preis, den Putin nicht bezahlen würde, damit Ukrainer, Georgier, Moldauer nicht erlangen, was Zentraleuropäer vor 25 Jahren erlangt haben. Nämlich – Freiheit und wirkliche Demokratie und den daraus resultierenden Wohlstand. Putin denkt in Kategorien des „Lebensraums“ und des „Drangs nach Westen“ – und die Ukraine hat das Unglück sich in diesem Lebensraum zu befinden.
Milliarden werden darin investiert, um Europa für dumm zu verkaufen, um zu beweisen, dass dies keine Revolution, kein Krieg und im Endeffekt keine europäische Angelegenheit ist. Und überraschender Weise – es funktioniert. Viele in Europa lassen sich täuschen – weil sie eben getäuscht werden wollen. Und – weil die neue Realität viel erschreckender, schwer zu verdauen ist, als die Lügen der russischen Propaganda. Es gibt so viele Gründe, der russischen Propaganda vom „Zivilkrieg in der Ukraine“ zu glauben: Müdigkeit, Gleichgültigkeit, Egoismus, Eigensinn. Und es gibt nur einen Grund um der Lüge nicht zu glauben – weil sie eben eine Lüge ist.
Man tut sich so schwer hierzulande, das Wort „Krieg“ auszusprechen. Ein Jahr nach der Annexion der Krim und beinahe ein Jahr nach dem Eintreffen der russischen Spezialeinheiten in Donbass, spricht man immer noch in Euphemismen. „Eine Krise“, „die Spannungen“. Ein ironischer und kluger Mensch beschrieb die Situation sogar als „die fehlende Unterstützung der Ukraine seitens Russlands“. Eine sympathische Akademikerin sprach von „Spannungen die in einen richtigen Krieg überschlagen können, falls die Amerikaner die Waffen liefern“. Als ob der Tod von Sechstausend Menschen und Exodus von beinahe 2 Millionen kein Krieg wäre, nur ein Schluckauf.
Daher werde ich mich auf zwei Dingen wesentlich konzentrieren: der Revolution in der Ukraine und dem ukrainischen Krieg. Missversteht man das eine – so wird man auch das andere missverstehen. Und umgekehrt – begreift man die Revolution, wird man auch die Gründe verstehen, warum die Ukraine angegriffen wurde und niemals aufgeben wird.
Das Jahr 2013 war das Entscheidungsjahr für die Ukraine. Zu dem Zeitpunkt war man zutiefst unglücklich mit Präsident Janukowytsch, aber es gab Gründe ihn zu tolerieren. Der Mehrheit der Bevölkerung (die für die EU-Integration der Ukraine stand) versprach er, den Assoziationsvertrag mit der EU zu unterschreiben. Die Ostukraine war weniger politisch engagiert, aber sah in Janukowytsch „einen von unseren“ – einen Donezker Jungen der ganz nach oben geschafft hat. Die absolute Mehrheit der Ukrainer war der Existenz ihres Landes im Zwischenraum satt – und trachtete nach einer Richtung, nach einem politischen „Kraftschlag“. Dieser wurde klar und deutlich angekündigt, in Form der Unterschreibung des Assoziationsvertrages auf dem EU-Gipfel in Vilnius.
Das Jahr 2013 war das 22. Jahr der ukrainischen Unabhängigkeit. Also – die Zeit wo eine ganze post-sowjetische Generation groß wurde, die mit einer Gewissheit aufwuchs: das die Ukraine an einem bestimmten Punkt ihres Lebens sich mit Europa vereinen wird. All die Jahre, all die „Wellen“ der EU Erweiterung, die hierzulande als Wiedervereinigung Europas zelebriert wurden, blieben im Rest Europas nicht unbemerkt. Es gab drei Dinge die man ganz genau in der Ukraine wusste. Erstens, wir hatten die Chance, ein Teil davon zu sein. Zweitens, wir haben es vermasselt. Und drittens, nichtdestotrotz irgendwann wird unser Tag kommen.
Und es hat sich so zugetragen, dass der Vilnius-Gipfel in der öffentlichen Wahrnehmung zu diesem „Tag der Tage“ wurde. Die ganzen Enttäuschungen der Jahre, wo Europa zelebrierte und wir draußen blieben, die ganzen Erwartungen eines Durchbruchs, die ganzen politischen und sozialen Spannungen der Janukowytsch-Zeit – waren auf einem Zeitpunkt konzentriert: 29. November 2013. Das musste der Moment der Wahrheit sein. Aus der Sicht der Geschichte, aus der Sicht der Generationen. Jedoch aus einem Moment der Wahrheit wurde ein Moment der Lüge, des Verrats. Das war der Moment an dem der Staat Ukraine, wie ein Schiff ganz ungeniert, um 180% umgelenkt wurde. Und genauso wie ein Schiff – kippte die Ukraine um.
Die Geschehnisse des Jahres 2013 können nur in Form einer Saga beschrieben werden. Einer Saga die (wie alles in der Janukowytsch Zeit) mal nach einer Tragödie, mal nach einer Komödie roch – und im Endeffekt zu einem Horrorszenario führte.
Heute wird öfters davon gesprochen, dass die Assoziierung eine schlechte Idee war, dass sie die Ukraine überspannte und Russland unnötiger Weise irritierte. Die Überspannung der Ukraine ist ein Thema von dem man 2013 überwiegend in Konjunktiv sprechen musste. Sie könnte ein Problem werden – hätte Janukowytsch den Vertrag unterschrieben und hätte es in der Tat zu einem Konflikt zwischen den EU- und Russland-orientierten Betrieben in der Ukraine gekommen.
Das wirkliche Problem war nicht die objektive Überspannung der Ukraine, sondern die subjektive Position Russlands. Ein Position die sich ständig verändert hat. Man hat in Erinnerung die Erklärungen Russlands aus Mitte 2000er, dass es keine Einwände gegen EU Integration hätte – nur die NATO Mitgliedschaft der Ukraine war für Russland ein absolutes Tabu. Dann, so etwa um 2008-2010 kam die Zeit, wo die EU Integration nicht direkt abgelehnt, aber ausgelacht wurde. Man hörte immer wieder – „Russland sei es egal wenn die Ukraine sich ins Knie schießen will, im Endeffekt wird sie doch zurück kriechen müssen“. Parallel wurde die Idee einer Slawischen Union, einer neuen Kiewer Russ, die von der Ukraine, nicht Russland geleitet wäre, in Umlauf gebracht – sie scheiterte kläglich während der Präsidentenwahl-2010.
Dann wurde Janukowytsch Präsident. Die Präsidentschaft Janukowytschs und besonders die Ministerpräsidentschaft Azarows wurde als eine Art Garantie gesehen, dass es im Endeffekt zur keinen EU Assoziierung kommt, sondern zur ukrainischen Mitgliedschaft in der Zollunion. Bis August 2013 nahm Russland die Unterschreibung des Vertrags in Vilnius als kein reales Szenario wahr. August-September war eine Art böses Erwachen für Moskau. Egal welche Absprachen und Versprechungen gab es seitens Janukowytsch – die schienen nicht erfüllt zu werden. Die Ukraine schien, auf einem festen Kurs zur Assoziierung zu sein.
Und dann fing der richtige Druck an. Die russischen „Envoys“ Glasiev und (seltener) Surkow verbrachten mehr Zeit in Kyiw und der Ukraine als in Moskau. Das Ministerkabinett wurde überhäuft mit Moskauer "analytischen Papieren" die katastrophale Folgen der Assoziierung für die ukrainische Wirtschaft an die Wand malten. Aber das wichtigste – es wurde mit Janukowytsch direkt gearbeitet. Und im Endeffekt gab der damalige Präsident klein bei.
Heutzutage hat Janukowytsch viel Freizeit. Und ich bin mir sicher: es vergeht kein Tag, wo er nicht daran denkt, wie er in Vilnius die Möglichkeit versäumte, den Vertrag zu unterschreiben. Oder wie die Menschen auf dem Maidan zwei Monate lang friedlich protestierten – ohne wirklich viel zu verlangen: die Polizeibrutalität anzukurbeln, die Schuldigen vom 31. November zu bestrafen, das Ministerkabinettneu zu besetzen. Nichts davon wurde getan.
Wenn man hier in Österreich von einem Putsch in Kyiw redet, dann schlage ich vor, diese Situation an sich anzuprobieren. Stellen wir uns vor, die österreichische Regierung tut etwas, was Hunderttausenden undenkbar erscheint. Anstatt auf die Menschen heranzukommen, werden die Protestierenden in der Mitte der Nacht brutal, vor laufenden TV-Kameras zusammengeschlagen. Und nachdem der Protest (als Ergebnis) hundertmal stärker wird, findet die Regierung nicht besseres, als Ereignisse zu ignorieren. Stellen sie sich vor, wie skurril dieses Benehmen ist. Janukowytsch grub sein eigenes Grab. Leider stieg er dahin nicht hinab, sondern stoß über Hundert Menschen – und bereitete den Grund für den großen Krieg vor.
Es ist bereits ein Teil der Geschichte. Am 18. November nutzt Ministerpräsident Asarow einen Brief der IWF als Anlass zur Stilllegung aller Vorbereitungen auf die Assoziierung. Diese Entscheidung kommt gerade zur Zeit wo Janukowytsch sich in Wien aufhält und neue Versprechungen zu europäischen Kurs der Ukraine macht. Am gleichen Abend schreibt der ukrainische Journalist afghanischer Abstammung Mustafa Nayem seinen Aufruf zu friedlichem Protest. Die Revolution fängt an. Bis Vilnius bleibt die Hoffnung, dass der Präsident es sich letztendlich anders überlegt. Die ukrainische Delegation kommt zum Gipfel mit keinen klaren Vorgaben. Am Ende entscheidet Janukowytsch, mit leeren Händen zurück zu fliegen.
In der gleichen Nacht werden die Demonstranten auf brutalste und demonstrative Weise zusammengeschlagen. In dem Moment geht durch die ganze Nation ein Ruck. Die Bilder sind undenkbar und unbegreiflich. So etwas hat es in der Ukraine niemals gegeben. An Stelle von Tausenden Protestierenden kommen Hunderttausende. Man sieht hier zum ersten Mal dieses Effekt des ukrainischen Wiederstands: je mehr Druck ausgeübt wird, desto verbissener kämpft man zurück. Wer gab den Befehl, derart brutal und demonstrativ vorzugehen, ist bislang unbekannt. Vieles deutet auf den stellvertretenden Sekretär des Nationalen Sicherheitsrats (und einstigen KGB-Offizier) Volodymyr Sywkowytsch, der übrigens seinen KGB-Dienst teilweise in Deutschland trug – zur gleichen Zeit mit Wladimir Putin.
Zugleich passiert noch eine undenkbare Sache, die auf die weiteren Ereignisse enormen Einfluss hatte. Die Ukrainer aus dem Osten werden gegen den Maidan angestachelt. Es wird ihnen nahegelegt, der Maidan sei eine antirussische, proamerikanische, hasserfüllte Aktion, die gegen die Ostukraine ausgerichtet ist. Der sogenannte Anti-Maidan wird bewaffnet und ermuntert, gegen andere Ukrainer gewaltsam vorzugehen. Tausende von Menschen werden nach Kyiw gebracht mit zwei Zielen: das Bild eines alternativen Protests zu schaffen und gegen den Maidan gewaltsam vorzugehen. Sie werden „Titushki“ genannt.
Ein paar Monate später, als die russischen Spezialeinheiten in der Ostukraine eintreffen, werden „Titushki“ zu ihren aktiven und tatkräftigen Kollaborateuren. Der Maidan ist noch im Gange, aber der Krieg ist bereits in Vorbereitung.
Es kommt zu ersten Opfern. Einige werden aus Krankenhäusern gekidnappt und im Winterwald zu Tode frieren lassen. Gruppen der Polizisten stehen vor UBahn-Stationen und schauen nach jungen Menschen aus die in gelb und blau gekleidet sind. Und diese Situation (wo die Nationalfarben auf einmal als Farben des Feindes gesehen werden) wird zu einem Verhängnis der Regierung. Ab jetzt agiert sie jenseits eigener Nation.
Man redet öfters von der Ukraine als einem gespalteten Volk. In der Tat, ist die Ukraine ein diverses Land: kultur-, religions-, sprachmäßig. Es führte allerdings niemals zu Gewalt. Eine amerikanische Zeitung schrieb einmal über ein Phänomen, das nirgendwo sonst in der Welt zu beobachten war. Sie nannte es „the Kiev conversation“ – wenn eine Person Ukrainisch spricht, die andere antwortet auf Russisch, und beide sind sich nicht bewusst, dass sie verschiedene Sprachen sprechen. Niemand stand jemandem in Wege in der Ukraine. Es war kein ideales, aber ziemlich eingespieltes, gewohntes und harmonisches Miteinander.
Die Ukraine ist nicht das einzige Land mit Trennlinien. Jedoch es benötigt einen Katalysator, um aus einer Trennlinie eine richtige Spaltung zu machen. Alle, die den Bürgerkrieg auf dem Balkan erlebt haben, werden bestätigen: die Spaltung war dort in der Luft lang bevor der Krieg ausbrachte. Nichts von der Art war in der Ukraine zu spüren. Unterschiede – ja. Spaltung – keineswegs. Aber dann kam Russland ins Spiel – ein Land, das sich niemals mit Zerfall der Sowjetunion abfand und die Ukraine immer als Teil Russlands sah. Das war der Katalysator.
Den ganzen Winter lang befand sich die ukrainische Regierung unter Druck Russlands, den Maidan gewaltsam auseinanderzutreiben. Und da zu diesem Zeitpunkt, sowohl das Verteidigungsministerium als auch das Innenministerium als auch der Sicherheitsdienst unter direktem Einfluss Moskaus standen, fehlte es nur an einem – der Entscheidung Janukowytschs.
Der Befehl kommt am 19. Februar vom Verteidigungsminister Pawel Lebedew (jetzt wohnhaft auf der Krim), aber der Maidan steht. In zwei Tagen sterben über Hundert Menschen. Überwiegend von Kugeln der unbekannten Scharfschützen. Die Herkunft der Schießer ist immer noch ein Rätsel. Sie schießen beiderseits. Ihnen scheint egal, wie viel Ukrainer und von welcher Seite sterben. Die sind Außenseiter. Was ihnen wichtig ist, ist das Blutbad, Chaos.
Einige Tage später wird dieses Blutbad von Russland als Vorwand zur Besatzung und Annexion der Krim benutzt. Cui prodest?
Aber bevor wir zum Krim-Anschluss und dem folgenden Krieg in Donbas übergehen – ein paar Worte zur Machtübernahme, die wie alles in dieser Geschichte einen Doppelboden hat. Der Wechsel geschah in der Woche vom 17. zu 23. Februar 2014. Am 19. wird der Maidan von Armeeeinheiten erfolglos gestürmt. Am Morgen dem 21. Februar werden alle Spezialeinheiten die zwischen dem Maidan und dem Präsidialamt standen, auf Anhieb zurückgezogen. Wer gab den Befehl – ist bislang ebenfalls unbekannt. Die Außenminister Deutschlands, Polens und Frankreichs verhandeln mit Janukowytsch. Er erklärt sich bereit zu Neuwahlen – und gleich daraufhin flieht aus Kyiw.
Der Maidan trauert und wütet über seine Toten. Einer der Anführer Volodymyr Parasiuk kommt auf die Tribüne und spricht leidenschaftlich, er kann sich nicht vorstellen, wie Janukowytsch nach dem Tod all dieser Menschen an der Macht bleibt. Nächsten Morgen wird das leere Präsidialamt von Protestierenden besetzt. Niemand weiß, wo sich Janukowytsch aufhält. Das Parlament stimmt mit 328 Stimmen für Absetzung Janukowytschs ab. So endet eine Drama und fängt die nächste an: die Intervention Russlands.
Die drei Lehren aus dem Maidan sind so einfach und banal, dass es sich eher die Frage stellt, wie schwer vom Begriff muss man sein, um das nicht von vorn hinein zu verstehen?
1. Etwas den Menschen jahrelang zu versprechen und dann am letzten Moment zurück zu nehmen – niemals eine gute Idee.
2. Noch schlimmere Idee – hunderttausende Protestierende monatelang frieren zu lassen oder gewaltsam auseinander zu treiben.
3. Noch schlimmere Idee – wegen der Machterhaltung eine Bürger auf die anderen anzuhetzen.
So kommen wir zum nächsten Akt der Drama: dem Krim-Anschluss.
Der Krim-Anschluss wird von Russland öfters als blutlos und gewaltlos beschrieben. Eine Lüge. In der Tat, war die Ukraine in den Tagen wie gelähmt. Viele im Westen scheinen es immer noch zu sein. Niemand könnte sich derartige Dreistigkeit im Gesicht der ganzen Welt vorstellen.
Der erste der die „Lähmung“ überwunden hat war der Krimtatare Reshat Ametov. Am nächsten Tag nach der Besatzung schrieb er auf seiner FB-Page: „Mir reicht´s! Ich gehe protestieren! Wer kommt mit?“. Am 3. März steht er ganz allein vor dem Krim-Ministerkabinett in Simferopol und hält ein Blatt Papier, auf dem steht „Nein zur Okkupation!“. In einigen Minuten wird er von Unbekannten verhaftet und weggeführt. Zwei Wochen später findet man ihn bei abgelegener Straßenseite zu Tode gequält – mit einer Schusswunde im rechten Auge. Soviel zur Frage „blutlos und freiwillig“.
Russland sagt, alles ging rechtsmäßig. Der Jahrestag des Krim-Diebstahls hat meinem russischen Kollegen in Wien den Anlass gegeben, historische Parallelen zu ziehen. Zum Beispiel, zwischen dem schottischen Referendum-2014, das seit Jahren vorbereitet wurde, und der Travestie von „Referendum“, die im gleichen Jahr auf der Krim stattfand. Ja, es gibt gewisse Ähnlichkeit – so etwa wie zwischen einem Stuhl und einem elektrischen Stuhl.
Angefangen mit der Tatsache dass die Krim-„Abstimmung“ absolut irrelevant war. Putin selbst hat in seinem neuen Video „Rückkehr in die Heimat“ klar und deutlich zugestanden: der Befehl zur Endlösung der Krim-Frage war von ihm höchstpersönlich gleich nach der Flucht Janukowytschs erteilt. Das heißt, drei Wochen vor dem „Referendum“.
Putin beteuert, er wollte die Krim nur bewahren. Wovor? Warum musste der beliebteste Ferienort der Russischsprechenden aus ganzer Welt zu diesem düsteren, abgeschotteten, von Raketen gespickten Zankapfel werden? Das Paradox unserer Zeit: die ukrainische Krim war ziemlich nahe an die Verwirklichung des putinschen Traums der „russischen Welt“. Das war ein Ort wo die Russen, Ukrainer, Weißrussen aus aller Welt sich wohl fühlten und nach eigenen Sitten Ferien machten. Jetzt, dank Putin, ist diese Konzeption ein und allemal dahin. Die größte und zweitgrößte slawischen Nationen werden von nun an niemals einander in die Augen sehen können, ohne diesen miesen, verlogenen, verräterischen, angeblich nicht existierenden Krieg in Erinnerung zu haben.
Die Ukraine war das friedlichste Land Osteuropas – einer der wenigen post-sowjetischen Staaten, dem das Schicksal Tschetscheniens-2000 oder Georgiens-2008 nicht zugestoßen war. Und dann kamen die russischen Spezialeinheiten. Der einstige „Verteidigungsminister“ der Donezker Volksrepublik Igor Strelkow, der in Russland als Nationalheld zelebriert wird, beteuert großmäulig: „Ich habe diesen Krieg angefangen“. Auf seinen zahlreichen und vollgepackten Pressekonferenzen wird stolz berichtet, wie er und seine Kameraden zuerst die Abgeordneten der (Krim) Parlament in den Sitzungssaal für Abstimmung gegen die Ukraine gewaltsam zwangen, worauf hin sie dann wenige Wochen später nach Donbass kamen und das erste Blut vergossen.
Strelkow war der Todesengel dieses Krieges. Aber wer war mächtig genug um diesem Kaderoffizier der russischen Geheimpolizei und seinen Kameraden solche Vollmacht zu geben? Eine rhetorische Frage in einem Land das von einem Kaderoffizier der Geheimpolizei regiert wird. Komische Sache: ausgerechnet von diesem Land wird die Ukraine jetzt „Junta“ genannt.
Am 13. April 2013 hört die Ukraine zum ersten Mal auf einer Abhöraufnahme die Stimmen von zwei Mördern – ein „Alexander“ aus Russland und ein „Strelok“ von in der Nähe von Slovyansk. Sie besprechen, wie erfolgreich sie eine Gruppe der ukrainischen Sicherheitsoffiziere vernichtet haben. Es wird auch ein „Konstantin Valerievich“ erwähnt. Monate später werden die ersteren zwei Personen als die einstigen FSB-Offiziere Alexander Borodai und Igor Strelkow (Girkin), die Gründer der Donetsker Volksrepublik bekannt.
Der eine entschied, der Ministerpräsident zu werden. Der andere war zuerst der Metzger von Slovjansk und später begnügte sich mit dem Posten des Verteidigungsministers. Der „Konstantin Valerievich“ ist in Zwischenzeit als Konstantin Malofeev identifiziert worden – der Kreml-nahe Milliardär und zugleich ein Religioser Fanatiker, über dessen Konten der Krieg finanziert wird.
In der gleichen Aufnahme gibt Borodai dem „Strelok“ die Instruktionen: „Du hast doch einen Stellvertreter der mit ukrainischer Akzent spricht – lass ihn ein Interview geben und im Namen von Donbas Föderalisierung der Ukraine verlangen“.
Zur gleichen Zeit werden in großen und kleinen Städten der Ostukraine die Behörden gestürmt. Wie das passierte – zeigt dieses Video aus Kramatorsk. Man sieht klar und deutlich wie die professionelle, gut ausgerüstete Militärs ohne Abzeichen auf die lokale Polizeizentrale anlaufen, die lokalen pro-russischen Kräfte treffen – und (da sie nicht ganz mitspielen) sie schlicht aus dem Weg räumen.
Im benachbarten Gorlovka agiert zur gleichen Zeit der einstige FSB-Offizier Igor Besler.
Am 17. April wird unter seiner Aufsicht die ukrainische Fahne heruntergerissen. Der ukrainische Abgeordnete Volodymyr Rybak versucht sie zurückzuhängen – und wird verhaftet und wegtransportiert. Tage später kommt eine neue Abhörkassette zwischen Strelkow und Besler. Besler fragt, ob jemand „von unseren“ bei Verhaftung Rybaks gesichtet wurde. Die Antwort ist – „mach dir keine Sorgen, unsere wurden nicht gesichtet“. Dann bittet Strelkow, den Toten wegzuschaffen – „er stinkt bereits“. Man spricht von Volodymyr Rybak´s Leiche. Ein paar Tage später findet man sie im Fluß – zu Tode gequält, mit aufgeschlitztem Bauch.
Besler, Strelkow, Borodai, Malofeev und die anderen – das sind laute Staatsbürger der Russischen Föderation, überwiegend einstige Geheimpolizisten. Wer in gutem Verstand kommt darauf, diese ganze Erscheinung als „Separatismus“ zu bezeichnen – ist mir schleierhaft. Das ist eine „covert operation“ Russlands, ein „Hybridkrieg“. Ein Krieg ohnegleichen – in seiner Hinterhältigkeit, Niederträchtigkeit, Grausamkeit.
März und April schaut die Ukraine hilflos zu, wie die russischen Spezialeinheiten die Ostukraine zergliedern. Die ukrainische Armee (dessen zwei letzte Verteidigungsminister ganz zufällig russische Staatsbürgerschaft hatten) ist entweder von Moskauer Kollaborateurs geleitet oder vor Angst gelähmt. Die Nationalgarde ist nur im Entstehen. Und dann, am 2. Mai passiert etwas, was diesen Krieg noch verrückter macht.
Während eines Fußballspiels in Odesa ist ein „Marsh für Einigkeit“ geplant. Hauptteilnehmer – patriotische Fußballfans, pro-ukrainischen Hooligans, verärgert und bitter. Während des Marchs werden sie von den pro-russischen Demonstranten angeschossen. Sieben Fans sterben. Die aufgebrachte Menge verfolgt die Gegner ins lokale Gewerkschaftsgebäude und zündet es an. Während ein Teil der Demonstranten die Menschen zu retten versucht, die anderen bejubeln rachsüchtig den Tod der Gegner. 31 Menschen ersticken. 8 stürzen von Fenstern zu Tode.
Die Odesa Tragödie ist gespickt von Hinweisen auf die russische Rolle. Die Ukraine ist bestürzt. Die Staatsführung verhängt Trauer und verurteilt die Taten der Hooligans. Aber es ist bereits zu spät. Die russischen Medien haben was sie wollten. Die Bilder sind grausig und schockierend. Die Ukraine wird dargestellt als ein Land wo die Russen beim lebendigen Leibe verbrannt werden. Russland ist aufgebracht.
Kein Wort im russischen Fernsehen über Versuche, die Menschen aus dem brennenden Gebäude zu retten. Kein Wort über die anfänglichen sieben Toten. Nur absoluter Wahn über die Nazi-Ukraine.
Erst nach Odesa kam es zu diesem absoluten Hass zur Ukraine seitens Russlands. Erst nach Odesa wurde der Hybridkrieg zu diesem Kreuzzug gegen die Ukraine. Erst nach Odesa wurde so offensichtlich welche Rolle in diesem Krieg von russischen Medien insgesamt und Fernsehen insbesondere gespielt wird. Wie einer sagte, „Dies ist der erste Krieg zwischen dem gesunden Verstand und dem Fernseher“. Der Krieg, in dem der gesunde Verstand bislang eine absolute Niederlage erleidet.
Die Rolle der Propaganda wird am deutlichsten am Beispiel des bereits legendären Videos über das gekreuzigte Baby von Slowjansk. Eine Frau, die angeblich von ukrainischen Truppen geflohen war, berichtet (mit Tränen in Augen) wie die ukrainische Armee nach Einnahme von Slowjansk auf dem Hauptplatz einen Jungen gekreuzigt hatte – vor den Augen der Mutter und der Stadtbewohner. Später entpuppt das alles als eine neue Lüge – einschließlich des Namens des Hauptplatzes. Aber wie Goebbels sagte – „Je größer die Lüge, desto mehr Leute folgen ihr“. Das scheint das Motto der gewaltigen Propaganda-Maschine zu sein, die von Russland aufgebaut war. Einer Propaganda-Maschine von der Goebbels nur träumen konnte.
Vor einem Jahr stand ich als Vertreter des Außenministeriums der Ukraine vor BBC-Kamera und versuchte zu erklären, warum die Ukraine nur hilflos zuschaut, wie sie auseinander genommen wird. Meine Antwort war – „Es ist schlicht undenkbar für einen Ukrainer auf einen Russen zu schießen“. Bei Ende des Jahres stellte man sich bereits eine andere Frage – „wie hört man mit all dem Schießen und Töten auf?“.
Spätestens seit dem Abschuss der malaiischen Flugmaschine über Torez, stellt sich diese Frage auch der Westen. Übrigens, alldiejenigen die behauptet haben, es wäre noch unklar wer dahinter steckt – ich rate ihnen, die Nachrichten aus den Niederlanden zu verfolgen. Schritt für Schritt, unwiderleglich kommt die Wahrheit zum Vorschein. Es ist bereits bekannt wie die Maschine abgeschossen wurde (von einer BUK-Rakete). Es ist bereits bekannt, von wo die Rakete kam (von Separatisten-kontrolliertem Gebiet). Es ist bekannt, wer die Kontrolle hatte (der einstige GRU General Sergei Petrovskiy – Stellvertreter Strelkows).
Also – wie stoppt man das alles? Die Antwort kann einfacher sein, als man denkt – wenn man sich die Struktur dieses Krieges anschaut. Von der Lüge kommt der Hass. Vom Hass kommt der Tod. Vom Tod kommen noch mehr Hass und mehr Tod. Falls man wirklich will, dem Krieg ein Ende zu setzen, muss man dort anfangen, wo die satanische Maschine des Krieges anfängt – bei den Lügen, bei der Aufhetzung Russlands gegen die Ukraine. Und in einem Land, wo alle Fernsehkanäle unter Staatskontrolle sind, kann die Lügenmaschine auf einen Knopfdruck gestoppt werden. Man muss es nur wollen.
Die größte Lüge dieses Krieges ist die Idee, dass die Ukrainer auf einmal verrückt geworden sind und darauf abgesehen haben, die Menschen in Donbas zu töten. (Schon wieder sehen wir diese Vorstellung von Ukrainern als irrationaler Volksmasse, die gegen jegliche Moral und eigenes Interesse agiert).
Diese These wird von russischer Propaganda tagtäglich mit grausigen Bildern der toten Zivilisten in Donetsk und Luhansk belegt. Von diesen Bildern ernährt sich die Propaganda. Die Bilder des Krieges werden als Bilder des Terrors der Ukraine gegen eigene Bevölkerung gedeutet und verbreitet.
Es gibt drei Dinge die ich als ukrainischer Botschafter hierzu zu sagen habe.
Erstens, der Tod jedes Zivilisten ist eine Tragödie der Ukraine und die Folge des Krieges, der von Menschen wie Strelkow, Borodai, Petrowskiy, Besler ausgelöst wurde.
Zweitens, diese Menschen sind Mörder, denen die Ukraine egal ist. Deshalb scheuen sie nicht davor, zur Taktik des lebendigen Schildes zurückzugreifen. Das heißt – die ukrainischen Streitkräfte aus Wohnvierteln zu beschießen und dann Zivilisten dem Rückfeuer der ukrainischen Armee ausgeliefert zu lassen.
Drittens, die ukrainische Armee wurde niemals dabei ertappt, die Zivilisten absichtlich zu beschießen. Zugleich wird es bereits von Separatisten selbst anerkannt, dass die Beschießung der ukrainischen Städte unter Kontrolle von DNR und LNR von russischen Diversanten durchgeführt wird.
Der Moment der Wahrheit war am 29. Jänner, als die Nachricht von DNR kam, drei ukrainische Diversanten seien mit einem Granatenwerfer nahe Donetsk verhaftet worden. Alle drei – mit russischen Pässen. Aus Krasnodar. Seitdem – kein Wort darüber und keine Erklärung wie es dazu kam, dass die drei Russen aus Krasnodar sich auf einmal als ukrainische Diversanten entpuppten.
Und dann, Anfang Feber kommt eine neue Abhöraufnahme, die vielen Skeptikern doch die Augen zu öffnen vermag. „Donetsk wird von unseren beschossen – dass weiß ich“. „Von unseren“ – das heißt in diesem Kontext von russischen Kräften. Denn die einzigen, die daran interessiert sind, dass die Kluft zwischen Donbas und dem Rest der Ukraine wächst sind diejenigen die diesen Krieg gestartet haben: die russischen Geheimoffiziere vor Ort und ihre Führung in Moskau.
Was zurzeit in der Ukraine passiert ist ein Krieg Russlands gegen die Ukraine. Dieser Krieg wird ein neues Kapitel der europäischen Geschichte aufschlagen – weniger triumphal und optimistisch als die letzten 25 Jahre. Wenn man sich das Ausmaß der Beteiligung der russischen Geheimdienste an diesem Krieg ansieht – versteht man, dass das eine ganz große Operation ist, in der die Ukraine wahrscheinlich nicht das Endziel ist.
Die nostalgischen Kräfte in Russland haben sich offensichtlich seit Jahren auf diesen Krieg vorbereitet. Einer der Hauptakteure des Krim-Anschlusses, der sogenannte Volksgubernator Sevastopols Alexei Chalyi sagte neulich in seinem Interview, dass die Annexion bereits während der Orangenen Revolution 2004 in Erwägung gezogen wurde – aber nicht gewagt. Stellen sie sich es vor!
Die Ukraine wurde durch diesen Krieg brüskiert und geweckt. Viele von Ukrainern haben Russland wirklich geliebt und als Brüdernation gesehen. Jetzt wissen wir, mit wem wir zu tun haben – und sind auf alles gefasst. Wir Ukrainer sind diejenigen, die die anfängliche Angst überwunden haben und doch den Mut fanden, diesem wütenden Nuklearstaat Paroli zu bieten.
Man spricht immer wieder, dass Europa Russland als Partner braucht. Keine Frage. Aber man muss auch den Mut haben, diesem Partner in die Augen zu sehen.
Russland ist der größte Staat Europas mit einem ausgeprägt anti-Europäischen Denken – und Handeln. Ziemlich alles was dem heutigen Europa heilig ist (Toleranz, Menschenrechte, Demokratie) erscheint Moskau fremd und verdächtig.
Alles was mit dem vereintem Europa zu tun hat – wird in Moskau ausschließlich unter dem Blickwinkel der Machtpolitik gesehen. Und somit als Niederlage gedeutet.
Aber man darf die Ereignisse in der Ukraine auf keinen Fall mit dem Maß der Machtpolitik messen. Tut man das – täuscht man sich gewaltig.
In der Ukraine geht es NICHT um die geopolitischen Spiele der großen Mächte und sogar NICHT um ihre wirtschaftlichen Interessen. Es geht vor allem um die Idee, die von der Ukraine bevorzugt – und von Russland abgelehnt wird.
Die Ukraine sieht Freiheit und Demokratie als Grundbedürfnis. Russland sieht sie als Luxus, den sich nur wohlhabende Nationen leisten können. Es geht dementsprechend um zwei alternative Deutungen Europas – und Versuch, eine von diesen Deutungen gewaltsam durchzusetzen.
Man spricht immer wieder über die besetzen Teile der Ukraine als „Separatisten“ oder sogar „Rebellen“ - im Unterschied zu (sagen wir) „Fanatikern“ und „Terroristen“ im Nahen Osten. Aber wenn man sich Dinge näher ansieht – wie groß ist der Unterschied wirklich?
Werden Andersgläubigen aus Kirchen weggejagt, terrorisiert und getötet – ist das schlicht Separatismus oder der Fanatismus von der schlimmsten Art?
Albert Pavenko (30). Ruvim Pavenko (22). Viktor Bradarskiy (28). Voloymyr Velychko (31). Diese vier Evangelisten wurden im besetzten Slowjansk in Juni, in Anwesenheit ihrer Kinder, inmitten des Gottesdienstes verhaftet. Als ihre Peiniger sie aus der Kirche führten, warnten sie die Gemeinde: „Das ist russisches Land und hier gibt es keinen Platz für unrussische Kirchen“. Ein Monat später wurden sie in einem Massengrab aufgefunden – zu Tode gefoltert.
Oder wenn die lokalen „Feldkommandiere“ Anweisungen erteilen, zu welcher Zeit Frauen ihre Häuser verlassen dürfen… Oder wenn der Ministerpräsident der Krim bekundet, „es gäbe auf seiner Halbinsel keinen Platz für Homosexuelle“… Oder wenn das öffentliche Fernsehen in den besetzten Gebieten ungestört antisemitische Propaganda betreibt… Oder wenn die katholischen Priester zwanghaft in die russische Orthodoxie konvertiert werden?…
Passt das alles in das Konzept der europäischen Vielfalt, wie es uns die Russland-Versteher einzureden versuchen? Ist es überhaupt zu fassen, dass solche Dinge kaum 2 Stunden Flugzeit von Wien passieren?
Man muss sich ganz klar sein: die Ereignisse in der Ukraine sind kein Krieg ums Land. Sie sind ein Krieg um die menschlichen Seelen, um die Seele Europas.
Ihnen liegt nicht nur Ablehnung Europas mit seinen Idealen und Prinzipien zugrunde, sondern ein Versuch, alternatives Europa zu bauen – mit alternativen Idealen und Prinzipien.
Nun zur wichtigsten Frage: Was kommt als nächstes? Die Zukunft ist ungewiss. Mit einer Ausnahme: es gibt kein Zurück zu „business as usual“. Europa der nicht unantastbaren Grenzen ist nicht mehr da. Genauso wie Europa des Vertrauens zwischen Ost und West. Genauso wie Europa der gemeinsamen Werte. Mit einem Zug in Februar-März hat Russland das alles zerstört. Was uns bleibt ist das zerrüttete europäische Puzzle, das jetzt, Stück für Stück, wieder zusammenzufügen ist.
Europa ist krank. Und leider scheint es nicht nach einem schlichten „Schnupfen“. Das schlimmste wäre jetzt, die Augen zuzumachen und die Existenz der Krankheit zu leugnen. Und wie man am Beispiel der Russland-Versteher so deutlich sieht, tarnt sich manchmal die politische Scheinheiligkeit als Friedfertigkeit.
Europas Zukunft muss jetzt neu erbaut werden. Hoffentlich kommt man nicht in Versuchung, sie auf Kosten der Ukraine zu erkaufen.
Die Ukraine ist heute eine Schlüsselentscheidung Europas. Das ist eine „Entweder-oder“ Frage. Entweder hilft man der Ukraine, ihre Freiheit zu verteidigen – oder ist die Freiheit diesem Europa weniger wert, als die Möglichkeit, mit dem Aggressor frei zu handeln. Die Entscheidung zieht große politische und wirtschaftliche Auswirkungen mit sich. Jedoch ist das vor allem eine moralische Wahl. Und wie jede moralische Entscheidung, wird sie Europa Jahrzehnte verfolgen.
Die Frage der demokratischen Wahl einer Nation steht im Kern dieses Konfliktes.
Europa wird seines Teils der Verantwortung nicht entziehen können. Man darf sich nicht mit Rückkehr zur Machtpolitik des 20. Jahrhunderts abfinden. Man darf nicht akzeptieren, dass „legitime Sicherheitsinteressen“ sich von Tausenden menschlichen Leben bezahlen lassen. Und natürlich darf die Sicherheit und Stabilität des ganzen Kontinents nicht an historischen Komplexen eines einzelnen Staates hängen.
Ich danke für ihre Geduld!